Sabato, 29 Febbraio 2020 08:15

Wer hat Angst vor dem Coronavirus? - NZZ

Im Tessin wurde der erste bestätigte Fall der Schweiz registriert. Der Südkanton ist wegen der Nähe zu Italien besonders stark exponiert. Die Tessinerinnen und Tessiner lassen sich davon aber nicht schrecken.
 
«Politisch war das die richtige Entscheidung», schreit mir der Vize-Bürgermeister Alessandro Fontana ins Ohr, während aus den Boxen «Wie heisst die Mutter von Niki Lauda?» dröhnt. Er meint das Verbot der Fasnacht in seinem Dorf Tesserete, das am Tag zuvor von der
Regierung verhängt wurde.
Etwa 30 Leute haben sich an diesem Donnerstagnachmittag in der Bar getroffen.
Sie widersetzen sich nicht etwa der kantonalen Weisung. Sie sind Mitglieder des Fasnachtskomitees und der Dorfvereine, sie hätten sich so oder so zu einem Mittagessen getroffen, sagt Fontana. Wieso also nicht verkleidet?
Fontana trägt einen Anzug mit farbigen Totenköpfen und Afro-Perücke. Er sagt, er habe sich als «Farbe» verkleidet. 
«Aber Sie wissen nicht, was diese Fasnacht für unsere Stadt bedeutet», schreit er weiter. «Das ist die grösste Veranstaltung unseres Dorfes. Ohne die Fasnacht würden viele Vereine hier nicht überleben.»
Einige Stunden zuvor. Das Wetter an diesem Donnerstagmorgen widerspiegelt die momentane Gefühlslage des Tessins wohl ziemlich gut: Die Sonne scheint, aber der Wind ist eisig. Vor zwei Tagen wurde der erste Corona-Fall hier bestätigt.
Das Fazit:Ja,die Italiener sind schuld.
Ein Mann kehrte vor etwas mehr als einer Woche aus Mailand zurück und schleppte das bereits erwarteteVirus ein.SechsVerdachtsfälle sind an diesem Tag im Tessin noch in Abklärung, die Medien melden im Minutentakt neue bestätigte Fälle, verstreut über die ganze chweiz. Zurzeit gibt es keinen Impfstoff und keine Behandlungsmöglichkeiten bei Corona, auch Covid-19 genannt. Das Bundesamt für Gesundheit hat über Twitter Wissenschafter dazu aufgerufen, sich zu melden, falls sie sich an der Entwicklung eines Gegenmittels beteiligen möchten. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
Doch während die Regierung Massnahme an Massnahme reiht, bleibt der Durchschnittsbürger vergleichsweise stumm. Was denken die Menschen eigentlich über das Coronavirus?
Eine Push-Nachricht leuchtet auf dem Bildschirm meines Telefons auf: «Zwei Corona-Fälle in Graubünden bestätigt.» Ich gehe los.
 
Das Telefon läuft heiss

Ich starte meine Suche dort, wo alles begonnen hat: bei den Zöllnern in Chiasso.
An der Strada San Gottardo sitze ich drei freundlichen Gesichtern gegenüber.
Eines davon gehört Roberto Arrondo, dem Postenchef der Zollstelle. 10 000 Menschen passieren hier täglich die Grenze. Pendler, Touristen, Migranten.
Und mit ihnen auch das Coronavirus.
Diesen Morgen hat Roberto Arrondo die Informationsplakate des BAG aufgehängt. Drei Vorsichtsmassnahmen werden genannt: Hände waschen, in den Ellbogen niesen, Abstand halten. Und das sei genau das, was die Zöllner auch täten, versichert er mir. Man halte die
Hygienemassnahmen strikt ein, nicht nur in Corona-Zeiten. «Nach wie vor tragen wir Handschuhe, aber wir waschen vielleicht ein wenig öfter unsere Hände», sagt Arrondo lächelnd.
Vor einer Ansteckung fürchtet sich in der Zollstelle niemand, sagt mir Arrondo.
Die Zöllner seien auch sonst allen möglichen Krankheiten ausgesetzt: Krätze,Tuberkulose.Alltag. «Das gehört zu unserem Job.» Nur die Telefone würden seit einigen Tagen heisslaufen. «Alle paar Minuten ruft jemand an und fragt: ‹Darf ich nach Italien einkaufen gehen
und wieder zurückkommen?› oder ‹Darf ich von Italien her einreisen?›. Das beschäftigt die Leute.» Auf der Website des Kantons sind zwar alle Informationen aufgeschaltet, und es gibt auch eine kostenlose Corona-Hotline, aber «die Leute gehen hier über die Grenze, also
wollen sie es auch von uns hören».
In der Bevölkerung spüren die Zöllner keine Panik. Einige Grenzgänger würden Masken tragen, aber nicht mehr als sonst auch. Andere würden der Schweiz gar mehr vertrauen als einem Mundschutz. 
Am Tag zuvor sei ein Mann mit Mundschutz über die Grenze gefahren. Sobald er auf Schweizer Boden gewesen sei, habe er die Maske abgenommen. «Für so sicher hält man die Schweiz.»
Mein iPhone vibriert: «Der Engadiner Skimarathon wird abgesagt.» Ich eile weiter.
Jemand,der nichts mehr von «Grenzen überqueren» hören will,ist Lorenzo Quadri.
Der Lega-Nationalrat rief als einer der Ersten via Twitter dazu auf, die Grenzen dichtzumachen. Aber das ist leichter gesagt als getan: Einerseits arbeiten 3800 Pendler im Gesundheitssektor des Kantons.
Andererseits kommen dieViren,die diese Menschen bekämpfen, unter anderem mit ihnen über die Grenze. Was also tun? Genau das frage ich Quadri in seinem Büro in Lugano.
 
Grenzen dicht?
Lorenzo Quadri ist schmächtig und trägt Jeanshemd mit Turnschuhen. Seine langen blonden Haare hat er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, seine schmale Statur erinnert an den Elfen Legolas aus dem Film «Herr der Ringe». Ein kleiner blauer Glitzer klebt
in seinem Gesicht.
 
Herr Quadri, wieso ist die Grenze noch offen?
Weil die Schweiz versäumt hat, diese Massnahme zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen. Der Bundesrat ist offensichtlich der Meinung, Schengen sei wichtiger als die Tessiner Bevölkerung.
Insbesondere während der ersten, chaotischen Phase in der Lombardei wäre die Schliessung der Grenzen nötig und sinnvoll gewesen.

Aber das Gesundheitssystem würde ohne diese Grenzgänger doch nicht funktionieren.
Das stimmt nicht. Schon jetzt fallen Leute wegen Krankheit oder Ferien aus.
Hinzu kommt, dass viele Leuten im Gesundheitssystem nicht Vollzeit arbeiten. 
Die Tessiner hätten vielleicht mehr arbeiten müssen.Wir hätten den Arbeitsplan für eine Zeit anpassen müssen, ja, aber das wäre für geraume Zeit möglich gewesen. Man kann ja auch nicht ausschliessen, dass die Lombardei noch andere Massnahmen ergreift und viele
Grenzgänger dann nicht zur Arbeit kommen können.

Und nun ist das Virus da. Wer ist schuld daran? 
Man kann nicht sagen, dass jemand Schuld daran hat. Man hätte einfach früher Massnahmen ergreifen sollen. Italien hat ganze Dörfer unter Quarantäne gestellt, und wir machen gar nichts. Ich meine, ich habe gelesen, dass es bereits zwei neue Fälle in Graubünden gibt. Ich weiss nicht, ob diese auch in Verbindung mit Italien stehen.

In beiden Fällen kamen die betroffenen Menschen aus Mailand zurück.
Nun ja, eben. Ich bin kein Facharzt oder Epidemiologe, aber eine Grenzschliessung hätte die Verbreitung eindämmen können und den Behörden mehr Zeit verschafft. Das wäre natürlich nach wie vor eine Möglichkeit. Es ist zwar spät, aber nicht zu spät.
In der Tat ist es schon halb eins an diesem Donnerstag. Quadri hat eine Verabredung zum Mittagessen. Wir verabschieden uns trotz Virusgefahr mit Händeschütteln. Ob er jetzt Angst vor dem Virus hat, will ich noch wissen. 
Quadri lacht. «Nein, ich bin ja noch jung», sagt der 46-Jährige. 
Palim, palim: «Erster Corona-Fall in Genf bestätigt.»
 
«Das Virus ist nicht rassistisch»
Jemand, der ebenfalls die Grenzen schliessen wollte, von dem man es aber nicht erwarten würde, ist der Leiter der Tessiner Ärztekammer Franco Denti.
Denti hat in diesen Tagen nicht viel zu lachen. Nicht als Mediziner und schon gar nicht als FC-Lugano-Ultra: Wegen des Virus konnte er am Sonntag nicht ins Stadion, um sich das Spiel Sion gegen Lugano anzusehen.Vielleicht besser so, hat Lugano doch wieder einmal
0:2 verloren. Das sei sehr schlimm für ihn gewesen, wird er später zugeben.
Denti kommt zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit, ganz in Schwarz, in Slippers und ohne Socken.
 
Dottore Denti, wie einige rechte Politiker forderten auch Sie die Schliessung der Grenzen. Welche Partei wählen Sie?
Bei dieser Massnahme geht es nicht um links oder rechts. Es geht um die Gesundheit der Bevölkerung.

Aber es ist illusorisch, dass sich das Virus mit einer Grenzschliessung hätte aufhalten lassen.
Natürlich. Früher oder später wäre das Coronavirus auch in der Schweiz angekommen. 
Aber mit dieser Massnahme hätten wir die schnelle Verbreitung ein wenig eindämmen können. Sie müssen sich das Virus als Murmelspiel vorstellen: Eine Murmel wird geworfen und berührt zwei weitere. Diese wiederum berühren wieder zwei weitere und so weiter.
Die einzige Möglichkeit, die Verbreitung zu unterbinden, ist, die Murmel dort zu lassen, wo sie ist.
 
Gut, die Murmel ist nun aber in der Schweiz. Was machen wir jetzt? Spielabbruch?
Was wir gerade in der Schweiz beobachten können, ist der normale Verlauf einer Epidemie: Am Anfang steigt die Anzahl der infizierten Personen rasant an. Irgendwann ist der Peak erreicht, und die Kurve flacht ab, die Zahl der Infizierten geht zurück. Das ist das, was
wir gerade in China beobachten können. 
Von daher sind die Schliessung der Grenzen und das Verbot von grösseren Veranstaltungen – also die Eindämmung der Verbreitung – nach wie vor die einzig wirksamen Massnahmen.

Gibt es denn gar nichts anderes, was man tun könnte? Das BAG hat heute Plakate aufgehängt.
Aus medizinischer Sicht nicht. Die Informationskampagne des Bundes ist zwar richtig und wichtig, aber sie kommt ein bisschen zu spät. Und das ist der Kern des Problems: Die Leute wissen zwar, was sie tun oder nicht tun sollen, aber sie wissen nicht, was dieses Coronavirus eigentlich ist.

Und was ist dieses Coronavirus?
Es ist eine Infektionskrankheit, die sich mit einer rasanten Geschwindigkeit verbreitet.
Viel aggressiver als irgendeine Grippe. Aber im Gegensatz zur Grippe trifft sie nicht alle gleich stark. Die Zielgruppe, die davon am stärksten betroffen ist, sind Männer über 60, die gesundheitlich vorbelastet sind. So wie ich.
 
Also haben Sie Angst vor dem Coronavirus?
Nein. Aber meine Frau macht sich Sorgen um mich.
Franco Denti, der keine Angst hat, hat vor kurzem einen Essensvorrat für 14 Tage eingelagert.
Schon wieder das iPhone: «Genfer Uhrensalon wird abgesagt.»

Ein bisschen Fasnacht
Die Fasnacht im 1500-Seelen-Dorf Tesserete ist die zweitgrösste Fasnacht im Kanton Tessin. An diesem Donnerstag würde sie ihr 120-Jahr-Jubiläum feiern.
Doch statt Guggen und Schlager herrscht gähnende Leere in den Strassen von Tesserete. Verlassene Festzelte schmücken das Dorf.
 
Irgendwo, in der Nähe des Bahnhofs, räumt der 43-jährige Fabio mit ein paar Kollegen des Skiclubs San Bernardo sein Festzelt aus. Fünf Tage lang hatten sie alles aufgebaut. Tags zuvor kam die Weisung der Regierung: Alle grösseren Veranstaltungen sind bis auf weiteres
abgesagt. Also auch die Fasnacht. Fabio versteht, dass die Regierung so handeln musste. «Aber wir müssen nun schauen, wie unser Verein dieses Jahr überleben soll», sagt er und lächelt verlegen. Mit den Einnahmen der Fasnacht finanziert sich ihr Skiclub das ganze Jahr über.Vergünstigte Ski-Tickets für Kinder, wie sie der Verein normalerweise anbietet, werden dieses Jahr wahrscheinlich nicht drinliegen. «Ausser, wir bekommen finanzielle Unterstützung vom Kanton.»
Finanzielle Unterstützung hin oder her, 8000 Franken, die sie bereits für Essen, Getränke, die Sicherheit und das Zelt ausgegeben haben, sind verloren. 
Zählt man die geplanten Einnahmen hinzu, ergibt sich ein Verlust von etwa 60 000 Franken.
 
«No Corona – solo party»
Nicht alle nehmen das so schwer. Oder tun zumindest so. Ein paar hundert Meter die Strasse hinauf dröhnt aus einer unscheinbar wirkenden Tür feinster Schlager. Hinter der Tür versteckt sich eine Bar, und in dieser Bar treffe ich auf den Vize-Bürgermeister Alessandro
Fontana.
Seine Perücke ist verrutscht, aber seine Worte sind klar: «Je nach Verein muss man mit Einbussen von 20 000 bis 30 000 Franken rechnen.» Dazu kämen noch Umsatzeinbussen von rund 800 000 Franken, die das Dorf verkraften muss. «Politisch verstehe ich das ja»,
wiederholt sich Fontana. «Aber denen fällt es natürlich leicht, die Veranstaltung einfach abzusagen. Dass unsere Region von dieser Fasnacht lebt, interessiert sie nicht.»
Ein Schotte mit lila Haaren torkelt in meine Richtung und erklärt mir: «Wir haben freigenommen, um zu arbeiten. 
Jetzt dürfen wir nicht arbeiten, also müssen wir feiern.» Einige tragen Strahlenschutzanzüge und Masken. Heisst das, dass wenigstens hier die Leute Angst haben vor dem Coronavirus? Der Schotte winkt ab. «Alkohol tötet alle Viren», belehrt er mich. «No Corona – solo party.»