Giovedì, 14 Maggio 2020 09:37

Tessiner Mediziner: «Ich bin wütend wegen der schnellen Lockerungen» - NZZ

Die massive Corona-Krise in der Südschweiz ist vorerst vorbei. Doch Tessiner Mediziner rechnen wegen der raschen Lockerung der Schutzmassnahmen mit einer zweiten Welle. Fragen wirft zudem die hohe Zahl der Corona-Toten auf.
 
Der erste Corona-Infizierte im Tessin wurde offiziell am 25. Februar bestätigt. Zu dieser Zeit war die Krankheit im nahen Norditalien bereits stark verbreitet. Danach ging es auch im Tessin rasch: Auf dem Höhepunkt der Südschweizer Covid-19-Krise Ende März lagen 415 Personen wegen des Virus im Spital, von ihnen 75 auf der Intensivstation. In jenen Tagen verzeichnete man im Schnitt 120 bis 150 Neuinfizierte täglich – und 10 bis 15 Todesfälle. Glücklicherweise sank die Kurve dann rasch ab, sonst wäre die Lage für die zwei Corona-Spitäler La Carità in Locarno und Moncucco in Lugano kritisch geworden.
 
 
Anders präsentierte sich die Situation am letzten Dienstag: Erstmals gab es weder Tote noch Neuansteckungen. Und in den darauffolgenden Tagen blieben die entsprechenden Zahlen extrem niedrig oder waren wieder bei null. Dieser Trend hat sich bei gleichzeitiger Lockerung der Tessiner Eindämmungsmassnahmen etabliert, die massiver als jene des Bundesrats ausgefallen waren. Am Donnerstag waren wegen Covid-19 nur noch 71 Personen hospitalisiert, 9 von ihnen in Intensivpflege. Insgesamt haben sich im Tessin seit Ende Februar 3272 Personen mit dem Virus angesteckt.
 
Zweite Welle schon im Juni?
 
Ein Wendepunkt also? Die Situation im Südkanton könne man dank den strengen Schutzmassnahmen momentan als relativ ruhig bezeichnen, sagt Paolo Ferrari, der medizinische Direktor der Tessiner Kantonsspitäler (EOC). Von einer wirklichen Entspannung mag er aber nicht reden: «Wir müssen wachsam und vorbereitet bleiben, denn eine zweite Corona-Welle wird im Tessin voraussichtlich bereits Anfang Juni auftreten.» Eine solche vermutet er aufgrund der grösseren Bewegungsfreiheit der Menschen und der Wiederöffnung der Läden.
Eine Pandemie, die derzeit unter Kontrolle ist: So beurteilt die Lage auch Christian Garzoni, der medizinische Leiter der Luganer Privatklinik Moncucco, die Corona-Patienten behandelte. Aber in den Spitälern habe man sich für den Fall einer Zunahme der Neuinfektionen aufgrund der Lockerungsmassnahmen bereits gewappnet.
 
Der Moncucco-Generaldirektor Christian Camponovo hält eine zweite Tessiner Corona-Welle sogar für sehr wahrscheinlich. Denn spätestens mit der Zunahme der Influenza- und Erkältungsviren im Winter werde auch die Verbreitung des Coronavirus wohl wieder deutlich stärker. Camponovo hofft daher, dass die Tessiner Bevölkerung die dringliche Empfehlung des Maskentragens und der sozialen Distanz akzeptiert.
«Ich bin wütend wegen der zu schnellen und weitreichenden Lockerungen des Bundesrats», sagt der Präsident der Tessiner Ärztekammer Franco Denti. Ein Lockdown von nur anderthalb Monaten werde der risikoreichen Tessiner Situation wegen der Nähe zur Lombardei nicht gerecht. Denti rechnet mit einem Wiederaufflammen der Neuansteckungen spätestens Anfang Juli – und wenn man dann nicht hart durchgreife, drohe im Herbst oder Winter sogar eine dritte Corona-Welle.
 
77 Prozent mehr Tote
 
Was im Tessin auffällt, sind die ungewöhnlich vielen Corona-Toten. Der Südkanton mit seinen rund 353 000 Einwohnern verzeichnete bis Donnerstag 341 Todesfälle. Dies ist schweizweit die zweithöchste Quote. Sie wird nur durch das Waadtland mit 399 Toten übertroffen; in diesem Westschweizer Kanton leben aber mehr als doppelt so viele Menschen.
Laut dem medizinischen EOC-Direktor Ferrari liegt im schweizerischen Mittel die Sterberate von Covid-19-Patienten bei 6,1 Prozent. Im Tessin hingegen sind es 10 Prozent. Ferrari sieht dafür zwei Gründe: Lebensgefährlich wird eine Corona-Infektion vor allem für ältere Menschen, und just das Tessin weist den höchsten Anteil älterer Menschen in der Schweiz auf.
Gemäss Statistiken sind rund 23 Prozent der Tessiner Bevölkerung im Pensionsalter. Und vier von fünf Corona-Todesfällen wurden bei Menschen über 75 Jahren verzeichnet. Im März und April habe die allgemeine Sterblichkeitsrate im Südkanton 77 Prozent über dem prognostizierten Durchschnitt gelegen, so Ferrari.
Neben dem hohen Anteil an Senioren könnte laut Moncucco-Generaldirektor Camponovo ein weiterer Umstand eine Rolle spielen. Von allen Kantonen habe in der ersten Phase der Epidemie das Tessin die meisten Ansteckungen aufgewiesen, und teilweise seien diese nicht diagnostiziert worden.
Der Präsident der Tessiner Ärztekammer Denti wiederum vermutet, dass etliche ältere Corona-Erkrankte versucht hätten, sich zu Hause zu kurieren – vor lauter Angst vor Spitalinfektionen. Als kritisch sieht er auch den Umstand an, dass viele angesteckte Altersheimbewohner nicht ins Spital gebracht, sondern im Heim selber behandelt wurden.
 
Untersuchung in zwei Altersheimen
 
Gemäss einer EOC-Statistik machen die Corona-Toten in Krankenhäusern 46 Prozent aller derartigen Todesfälle im Tessin aus. Etwa gleich viele an Covid-19 Erkrankte sind wohl in den Altersheimen gestorben. Im Südkanton gibt es 68 solcher Einrichtungen, von denen fünf unter Beobachtung des Kantonsarztes stehen. Und in zwei Heimen hat dieser eine Untersuchung eingeleitet, weil sich dort die Corona-Todesfälle massiv gehäuft hatten.
Der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass man in solchen Einrichtungen infizierte Bewohner sofort isoliert und das Pflegepersonal schützt. Aber das sei eben der heikle Punkt, so Klinikdirektor Garzoni: In Altersheimen träten wegen der hohen Zahl der gefährdeten Personen und des hohen Ansteckungspotenzials eher Schwierigkeiten bei der Prävention und der Massnahmenkontrolle auf. Gemäss Denti könnte auch eine Rolle gespielt haben, dass man einige Direktiven der kantonalen Gesundheitsbehörde erst mit Verspätung umgesetzt hat.